Erstaunlich eigentlich, dass die zweifellos offen und experimentell angelegten Farb-„Gemälde“ bisweilen abgeschlossener und vollendeter wirken als des Künstlers kleinformatige Zeichnungen auf Papier oder Pappe. Zwar sind diese Miniaturen auf Wiedererkennbarkeit des Realen aus, aber nur was die Zeichnung selbst betrifft – die graphischen Linien, Striche und Schraffuren des Bleistifts –, denn tatsächlich handelt es sich um Mischtechniken, die ihren rein malerischen Anteil kaum verleugnen.

Die entzifferbaren, bekannten wie unbekannten Dinge und Figuren scheinen zuweilen als fragile Traumgebilde in unbestimmbaren Farbsphären schwerelos zu schweben. In den Farbdunst verwoben erscheinen sie durchaus entbehrlich: als Versatzstücke einer künstlerisch zurechtgestutzten Außenwelt. Als Relikte des Realen bestimmen sie deshalb oft nicht das Bildzentrum, sondern gerne die Ränder und Ecken der Zeichnung.

Jedenfalls lassen sie sich weder symbolisch noch allegorisch deuten; Noll geht es allein, wie er selbst sagt, um die „pure Lust am Zeichnen und Malen“.

Die mit viel Liebe zum Detail virtuos gezeichneten „Körper-Welten“ lassen sich eingrenzen: Es sind Athleten und „Springer“ in dynamischer Aktion (ein Bildmotiv, das Noll gelegentlich auch in seinen Ölbildern variiert), neuerdings Stadt-, Orts- und heimatliche Landschaftsansichten und sogar verschmitzt-heimelig Folkloristisches – zu Speis und Trank laden Ebbelwoi-Schorsch und Handkäs-Hannes ein. Nicht zuletzt gibt es da die berühmten Ikonen der Kultur- und Medienwelt: populäre Porträts als Fragmente unseres „kollektiven Bilderrepertoires“ (Dr. Oliver Kornhoff). Vor allem Hollywood lässt grüßen – die Loren zum Beispiel, Marilyn und Marlene, Charlie Chaplin, Buster Keaton, Laurel und Hardy. Sie alle geben sich ein kunterbuntes Stelldichein, ohne jedoch den wahren Protagonisten des ansonsten bewegten Bildgeschehens, die Farbe nämlich, die mal mehr, mal weniger kräftige Akzente setzt, auszubooten. Malerisch wirkende Verwischungen der Bleistiftspuren geben zusätzliche Effekte.

Es ist verblüffend zu sehen, wie mittels einer äußerst aufwendigen digitalen Drucktechnik („Piezographie“) dieselben Bleistiftspuren zu gewaltigen Kohlestrichen mutieren. Die ja zum Teil winzigen, intimen Arbeiten blähen sich insgesamt regelrecht auf – zum fast monumentalen, wandfüllenden Format. Hauchdünne Fissuren, Risse, Kratzer werden dabei zu breiten, tiefen Furchen. Die wohldosierten Pinselfakturen der Originale erscheinen als wuchtige Pinselhiebe (die fast an Action Painting denken lassen), schrundige Aufwerfungen der Farbtextur erinnern im Monumentaldruck an Verputz, vielleicht gar an Fresken. Diese großen Leinwandfahnen lassen bisweilen entfernt an manche Arbeiten Richters oder Polkes denken. – Ob solche riesigen Digitaldrucke überhaupt eine Zukunft haben, wird sich noch erweisen. Die Ästhetik jedenfalls ist quasi auf die Spitze getrieben; selbst das Motiv des im Krieg grauenvoll zerstörten Frankfurt, gezeichnet nach einer privaten Fotovorlage, erscheint als höchst komplexe, durchaus reizvolle Komposition.

Zuletzt noch einmal Adorno: „Unersetzlich ist nur, was zu nichts taugt.“ Und vom Brot allein wird der Mensch ja bekanntlich nicht satt. Somit ist es wohl viel wichtiger, die Bilder sprechen zu lassen, als über sie wichtig und viel zu sprechen … denn, so drückt es Georges Braque aus, „in der Kunst ist nur eines von Wert – das, was man nicht erklären kann“. Trauen wir also den eigenen Augen – oder auch nicht!

Gunther Sehring, 2004

    Acryl auf Leinwand
    375 x 140 cm (3-teilig)
    1988