„Alles, was eine Funktion hat, ist ersetzbar.
Unersetzlich ist nur, was zu nichts taugt.“
(Theodor W. Adorno)
Es liegt auf der Hand, dass es bei dem extrem hohen existentiellen Risiko, das dem Künstlerberuf anhaftet, etwas ganz anderes sein muss, das einen Maler um- und antreibt, als die alltägliche Jagd nach Geld und Gütern. Heutzutage, wo längst mehr Menschen den Pinsel als Golfschläger oder Tanzbeine schwingen, sollte der „echte“ Künstler sein Kunst-Produkt von vornherein selbst notwendig „brauchen“ und sei es als ein Aufweis seiner Selbstliebe und um den Preis des „Preislosen“.
Malerei ist für einen Maler allemal kein
Luxus! Selbst für einen notorischen Kunstsammler ist sie gewissermaßen eine Notwendigkeit, obgleich uns diesbezüglich Louis Comfort Tiffany höchstselbst versichert hat: „Luxus macht das Leben reicher – und den Käufer ärmer.“ Um auf das Eingangszitat zurückzukommen: Gerade heute, in einer Zeit der globalen Ängste, der Markt- und Markendominanz sowie der medialen und virtuellen Reizüberflutung ist es geboten, in unserer Gesellschaft das zu retten, „was sich nicht funktional rechtfertigen lässt. Es ist Zeit, für die Dinge einzutreten, die keine Zwecke haben“ (Fulbert Steffensky). Kunst – von ihrem Wesen her verstanden – transzendiert, noch immer, das Feld der gegenständlichen Erfahrung, ja ist gar Wahrnehmung des „Ausgeschlossenen“, des Irrealen, und bekämpft die drohende Banalität eines Daseins, das keinerlei Geheimnis mehr kennt.
Freilich tun sich Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft mit dem Phänomen Farbfeldmalerei und dem experimentellen Ansatz eines Horst Noll schwer.
Ein kunsthistorisches Schubladendenken lässt zumeist die Komplexität einer Malerpersönlichkeit völlig außer Acht, weshalb man – bezüglich zeitgenössischer Kunst – mit normativen Kategorien wie Integrität, Originalität oder Authentizität im Allgemeinen sehr viel weiter kommt.
Horst Noll hat sich seine Authentizität, seine Unverwechselbarkeit sowohl im Bereich ungegenständlicher Malerei als auch bezüglich figurativer Kunst im Laufe eines Vierteljahrhunderts „ermalen“ müssen. Dazu bedarf es wirklich Mut, Ausdauer und einer gewissen kalkulierten Sturheit. Vor allem Nolls Farben sprechen Empfindungen und Gefühle des Menschen unmittelbar an. Seine Malerei geht nicht in Begriffen auf, denn der Inhalt dieser Malerei auf Leinwand, Karton oder Holz ist eben die Malerei selbst. Diese kommt sozusagen ohne Umschweife zur Sache: Malerei als essentielle Malerei. Das bedeutet: Die Farben sind nicht nur Darstellungsmittel, sondern auch Darstellungsgegenstand. Weder sind die bemalten Leinwände und Holz-Objekte auf ihrer Vorderseite signiert noch sind sie bezüglich ihrer Hängung (auf links/rechts, oben/unten) definitiv festgelegt. Ihre Stärken liegen ohne Zweifel in der primär sinnlichen Gegenwart. Dies schließt spätere transzendente Erfahrungen des Betrachters vor dem Bild (wie zum Beispiel das Assoziieren von „Landschaft“) keinesfalls aus; schließlich überwindet jedes echte Kunstwerk mühelos Materie, indem es diese verwandelt. Banal gesprochen: Aus Farbe als farbgebender Substanz wird Farbe als rein optische, sinnesphysiologische Erscheinung; ist diese Farbe wiederum regelrecht gestaltet, kann sie auf Transzendenz weisen.
Der Künstler sieht sich als ein „Farb-Forscher“, der fast anonym hinter sein Werk tritt, als einer, der das Wunder Farbe initiiert wie inszeniert, welches sich dann gewissermaßen selbst verwirklicht: als Stoff, als Kraft, als Energie oder Licht. Der Dialog zwischen Maler und Farbe bringt autonome Bilder hervor, die – nur auf den ersten Blick einfarbig und flächig – als lebendige, gleichsam „atmende“ Farb-Organismen erscheinen.
Schon während des spontanen Malprozesses lässt sich die Farbe auf ein Spiel zwischen der totalen Absenz ihrer Substanz und der absoluten Präsenz ihrer Materie ein. Durch den lasierenden Auftrag mehrerer verschiedenfarbiger Schichten reiner Ölfarbe gewinnt das Gemälde seinen Reichtum an koloristischen Nuancen. Dabei beeinflussen schon geringfügige Unregelmäßigkeiten der einzelnen transparenten Farbschichten die weitere Gestaltung. Kräftige pastose Pinselspuren lassen als gestische „Einschübe“ oder „Ausbrüche“ gelegentlich Versehrungen, ja Wunden assoziieren. Doch sind sie dabei stets organisch in den Farbleib eingebunden.
Anonymität und Individualität der Farben wirken, im Bild vereint, als eine polychrome Synthese: Jedes Bild zielt letztlich auf Ganzheitlichkeit. Selbst dann, wenn der Betrachter unwillkürlich Gegensatzpaare zu analysieren weiß, wie etwa: klein/groß, nah/fern, materiell/immateriell, tastbar/un(an)tastbar, rau/glatt, unrein/rein, weich/hart, bewegt/unbewegt, bestimmt/unbestimmt usw. Es ist jedoch nötig zu bemerken, dass all diese Gegensatzpaare keine bewussten Kompositionsprinzipien des Malers darstellen; vielmehr ergeben sich die Assoziationsmöglichkeiten aus der „Logik“ des Bildes quasi von selbst.
Erstaunlich eigentlich, dass die zweifellos offen und experimentell angelegten Farb-„Gemälde“ bisweilen abgeschlossener und vollendeter wirken als des Künstlers kleinformatige Zeichnungen auf Papier oder Pappe. Zwar sind diese Miniaturen auf Wiedererkennbarkeit des Realen aus, aber nur was die Zeichnung selbst betrifft – die graphischen Linien, Striche und Schraffuren des Bleistifts –, denn tatsächlich handelt es sich um Mischtechniken, die ihren rein malerischen Anteil kaum verleugnen.
Die entzifferbaren, bekannten wie unbekannten Dinge und Figuren scheinen zuweilen als fragile Traumgebilde in unbestimmbaren Farbsphären schwerelos zu schweben. In den Farbdunst verwoben erscheinen sie durchaus entbehrlich: als Versatzstücke einer künstlerisch zurechtgestutzten Außenwelt. Als Relikte des Realen bestimmen sie deshalb oft nicht das Bildzentrum, sondern gerne die Ränder und Ecken der Zeichnung.
Jedenfalls lassen sie sich weder symbolisch noch allegorisch deuten; Noll geht es allein, wie er selbst sagt, um die „pure Lust am Zeichnen und Malen“.
Die mit viel Liebe zum Detail virtuos gezeichneten „Körper-Welten“ lassen sich eingrenzen: Es sind Athleten und „Springer“ in dynamischer Aktion (ein Bildmotiv, das Noll gelegentlich auch in seinen Ölbildern variiert), neuerdings Stadt-, Orts- und heimatliche Landschaftsansichten und sogar verschmitzt-heimelig Folkloristisches – zu Speis und Trank laden Ebbelwoi-Schorsch und Handkäs-Hannes ein. Nicht zuletzt gibt es da die berühmten Ikonen der Kultur- und Medienwelt: populäre Porträts als Fragmente unseres „kollektiven Bilderrepertoires“ (Dr. Oliver Kornhoff). Vor allem Hollywood lässt grüßen – die Loren zum Beispiel, Marilyn und Marlene, Charlie Chaplin, Buster Keaton, Laurel und Hardy. Sie alle geben sich ein kunterbuntes Stelldichein, ohne jedoch den wahren Protagonisten des ansonsten bewegten Bildgeschehens, die Farbe nämlich, die mal mehr, mal weniger kräftige Akzente setzt, auszubooten. Malerisch wirkende Verwischungen der Bleistiftspuren geben zusätzliche Effekte.
Es ist verblüffend zu sehen, wie mittels einer äußerst aufwendigen digitalen Drucktechnik („Piezographie“) dieselben Bleistiftspuren zu gewaltigen Kohlestrichen mutieren. Die ja zum Teil winzigen, intimen Arbeiten blähen sich insgesamt regelrecht auf – zum fast monumentalen, wandfüllenden Format. Hauchdünne Fissuren, Risse, Kratzer werden dabei zu breiten, tiefen Furchen. Die wohldosierten Pinselfakturen der Originale erscheinen als wuchtige Pinselhiebe (die fast an Action Painting denken lassen), schrundige Aufwerfungen der Farbtextur erinnern im Monumentaldruck an Verputz, vielleicht gar an Fresken. Diese großen Leinwandfahnen lassen bisweilen entfernt an manche Arbeiten Richters oder Polkes denken. – Ob solche riesigen Digitaldrucke überhaupt eine Zukunft haben, wird sich noch erweisen. Die Ästhetik jedenfalls ist quasi auf die Spitze getrieben; selbst das Motiv des im Krieg grauenvoll zerstörten Frankfurt, gezeichnet nach einer privaten Fotovorlage, erscheint als höchst komplexe, durchaus reizvolle Komposition.
Zuletzt noch einmal Adorno: „Unersetzlich ist nur, was zu nichts taugt.“ Und vom Brot allein wird der Mensch ja bekanntlich nicht satt. Somit ist es wohl viel wichtiger, die Bilder sprechen zu lassen, als über sie wichtig und viel zu sprechen … denn, so drückt es Georges Braque aus, „in der Kunst ist nur eines von Wert – das, was man nicht erklären kann“. Trauen wir also den eigenen Augen – oder auch nicht!
Gunther Sehring, 2004
Acryl auf Leinwand
375 x 140 cm (3-teilig)
1988