Bilder ab 1995
„Ein Problem des Kunstbetriebs besteht darin, das richtige Verhältnis zu finden zwischen dem Ohrabschneider und dem Halsabschneider.“ – Keine Frage: Mit dieser „Aufzeichnung“ (Nummer 71) bohrt der deutsche Maler und Schriftsteller Hans Platschek gnadenlos in den abgründigen Tiefen der Kunst und nimmt zugleich die Position des Künstlers wie die der Kunstvermittlung, respektive Kunstvermarktung, aufs Korn. In einem anderen Statement wird er deutlicher: „In den Händen von Sotheby´s und Christie´s werden Picasso oder van Gogh zu bunten, im Farbdruck konservierten Karteileichen.“ (Aufzeichnung 63) Freilich ist es so – wie einem Artikel der ZEIT vom 24. Oktober 2002 zu entnehmen –, dass vor allem der wahre Kunstliebhaber als Sammler „gewinnt, denn Kunst werfe, Aktienkrise hin oder her, immer eine `emotionale Dividende´ ab“ (K. Spanke).
Nun aber zur Kunst-„Produktion“! Um der tagtäglichen optischen Reizüberflutung Paroli bieten zu können, muss die heutige Kunst zunehmend die Schaffung von Gegen-Bildern vorantreiben, die nicht schon auf allzu Bekanntes verweisen. Dieser Weg, immer wieder neu begonnen, führt vielmehr ins Unbekannte. Bei Erfolg stellt sich eine ganz neue Schönheit ein, die weder postmoderner Beliebigkeit das Wort redet noch abgedroschene Klischees bedient. Jenseits aller kunsthistorischen Schubladen versuche ich im Folgenden, einige rezeptionsästhetische Bedingungen der Farbfeldmalerei von Horst Noll aufzuzeigen sowie Überlegungen zum Wesen der Farbe als Objekt und Subjekt seiner Kunst anzustellen.
Diese Art von Malerei sucht ihren Ausdruck meist nicht im expressiven Überschwang oder nur in kruder Materialschwelgerei. Nolls Bilder sind Werke, die sich selbst genügen; sie tragen in der Regel keine Titel. Inhalt der Malerei ist die Malerei selbst: Form (Binnen- wie Konturform) und Farbe sind identisch. Zusammen mit seinem Träger, entweder der Leinwand oder der Holztafel, erhält das Bild daher starken autonomen Objektcharakter; Abbilder oder Konstruktionen sind ausgeschlossen. Erst wenn sie sich nur schwer verbalisieren und in Begriffe zwingen lässt, kommt Malerei als Malerei schließlich zum Ausdruck ihrer selbst. Der „absoluten“ Musik ähnlich, ist die primär sinnliche Präsenz ihre Stärke. Tatsächlich können sich recht oft synästhetische Empfindungen einstellen. Die Position des Betrachters ist jedoch zunächst eine passive: Man darf sich der Totalität des Bildes ausliefern. Gewünscht ist letztlich immer auch eine Rezeptionsverzögerung, frei nach dem Motto: „Wenn man nichts sieht, schaut man länger hin.“
Horst Nolls Gemälde der letzten Jahre (1998 bis 2003) wirken, bei aller Potenz der Farbe, in sich relativ still, geschlossen, jedenfalls nie optisch besonders laut oder aufdringlich. Eher vermitteln sie den Eindruck einer äußerst „lebendigen Ruhe“. Daher brauchen sie einen angemessen neutralen Umraum, um überhaupt derart zur Wirkung kommen zu können. Diesen für diese Art essentieller Farb-Subjekte benötigten Umraum bietet die helle Wand beziehungsweise die „weiße Zelle“ (der „White Cube“ einer Galerie z.B.), welche als quasi hinterfangende Folie erst den eigentlichen, unmittelbaren Raum-Bezug dieser Malerei kreiert wie garantiert.
Johannes Itten, der berühmte Maler und Theoretiker, konstatierte einst über die Farbe: „Ihr innerstes Wesen bleibt unserem Verstand verborgen und kann nur intuitiv erfasst werden.“Die Farbe behauptet unter allen bildnerischen Mitteln in der Tat eine Sonderstellung, denn sie ist selber ein Natürliches. So fordert ihre subjektive Natur eine Darstellung, „in der die eigentümlichen, an keinen Gegenstand gebundenen Energien, die jede Farbe anders hat, zum Vorschein gebracht werden“ (W.J. Hofmann). Geradezu paradigmatisch kann ein Ausspruch des Malers Gotthard Graubner auch auf Nolls Bilder bezogen werden: „Die Farbe entfaltet sich (hier) als Farborganismus; (der Maler beobachtet) ihr Eigenleben (und respektiert) ihre Eigengesetzlichkeit.“Somit ist der Künstler allein der Initiator der Farbe, die sich gewissermaßen – als Subjekt – selbstverwirklicht. Aus dem Dialog zwischen Maler und Farbe heraus erlangt das Bild Identität und Authentizität.
Das dialektische Verhältnis (zwischen Maler und Farbe) manifestiert sich in einem mehrdimensionalen Farbraum, der durch Farbvibration und -fluktuation oft gleichsam zu „atmen“ scheint. Durch den sukzessiven, lasierenden Auftrag mehrerer Schichten reiner Ölfarbe und durch anschließende mechanische Bearbeitung, bei gleichzeitiger Tendenz zur Entmaterialisierung des Farbgefüges, gewinnt das Gemälde seinen Reichtum an koloristischen Modulationen, Valeurs und Nuancen. Dabei beeinflussen schon geringfügige Unregelmäßigkeiten der einzelnen, transparenten Farbschichten die weitere Gestaltung.
Wiesen Nolls ältere Acryl- und Ölbilder noch einige konstruktive Negativformen, entstanden durch Verwendung von Klebestreifen, auf, die das Gewachsene des Bildes stellenweise analytisch vorführten, so akzentuieren bei den neuen Arbeiten, insbesondere bei den Großformaten, sparsam gesetzte gestische Einschübe oder spontan wir-
kende Ausbrüche hauptsächlich die Ecken und Ränder. Sie zeigen sich jedoch stets organisch in den Farbleib eingebunden und erscheinen deshalb als eine Art Konzentrat der farblichen Essenz des jeweiligen Gemäldes: Die Figur/Grund-Problematik ist damit nahezu ausgeschaltet. Gelegentlich bilden pastose Pinselzugformationen regelrecht Farb-Körper mit haptischen Qualitäten aus, die unter Umständen sogar in den Realraum vordringen. Der Künstler liebt besonders die Primärfarben, deren Klarheit und Einfachheit beziehungsweise Eindeutigkeit seinen bildnerischen Absichten sehr entgegen kommen.
Pro Bild wahrt die Farbpalette bei aller Wärme dennoch eine unbestimmte Künstlichkeit, obgleich meist Farben gewählt wurden, die im Farbkreis nahe beieinander stehen. Zwar können sich so durchaus landschaftliche Assoziationen manchmal einstellen, gleichwohl demonstriert das Bild doch immer auch seine Naturferne und präsentiert sich als pures Kunst-Gebilde. Der Maler verwendet, von den Gelbklängen abgesehen, selten reine Primärfarben; d.h. er gibt den eher gebrochenen (jedoch leuchtkräftigen) Farbtönen den Vorzug. So benutzt er zum Beispiel viel lieber das zum Türkis hin tendierende Mangan-Coelinblau, als das dunklere, kältere Ultramarin. – Gewiss: Horst Noll sagt, er habe noch nie einfarbige Bilder gemalt. Das stimmt selbstverständlich, was die Gestaltung der Werke anlangt, sofern die Kompositionsprinzipien gemeint sind. Der Betrachter freilich nimmt zuerst eine latente Monochromie wahr, sieht also einen Grundfarbton, auf den das jeweilige Bild abgestimmt zu sein scheint; erst auf den zweiten Blick erkennt er die simultane Wirkung der zahlreichen, verschiedenfarbigen Malschichten. Hat man sich die Komplexität eines jeden Bildes erst einmal vergegenwärtigt, wird einem klar, was den Maler wirklich antreibt, was er sucht und zu finden hofft: eine polychrome Synthese.
Auf die Licht-Referenz mancher Gemälde wäre noch hinzuweisen. Die bemalten Casani-Sperrholzkästen erinnern ja beinahe an Lichtkästen, insbesondere dann, wenn die vier Kanten des Bild-Objektes nicht bemalt wurden. Zwar ist das Licht bekanntlich ein ganz anderes Medium, mit dem auch künstlerisch gearbeitet werden kann, aber die je sichtbare Farbe übermittelt zumindest das Lichtprinzip – oder, wie Goethe es im Vorwort zu seiner Farbenlehre aussprach: „Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden.“
Horst Nolls Malerei ist der stets neu unternommene Versuch einer endgültigen Definition von Farbe als Objekt wie auch Subjekt des Künstlers. Das Resultat sind Bilder von poetischer Ausdruckskraft, an der sich sowohl ästhetische Genussfreude als auch Intellektualität entzünden können. Angesichts der insbesondere von virtuellen und digitalen Medien vielfach betriebenen „visuellen Umweltverschmutzung“ erhält sich diese Malerei eine humane Dimension. Die Reduktion des Bildmaterials und der Bildmittel allein auf das Medium der Farbe vermag es, den visuellen Sinn des Menschen neu zu schärfen, das müde Auge wieder zu sensibilisieren. Dem unvoreingenommenen Betrachter enthüllen sich so die Wunder, die Geheimnisse und Sensationen der Farbe – ein geradezu therapeutisches Abenteuer.
Gunther Sehring, 2003
Öl auf Karton
32 x 22,7 cm
2001