Wiesen Nolls ältere Acryl- und Ölbilder noch einige konstruktive Negativformen, entstanden durch Verwendung von Klebestreifen, auf, die das Gewachsene des Bildes stellenweise analytisch vorführten, so akzentuieren bei den neuen Arbeiten, insbesondere bei den Großformaten, sparsam gesetzte gestische Einschübe oder spontan wir- kende Ausbrüche hauptsächlich die Ecken und Ränder. Sie zeigen sich jedoch stets organisch in den Farbleib eingebunden und erscheinen deshalb als eine Art Konzentrat der farblichen Essenz des jeweiligen Gemäldes: Die Figur/Grund-Problematik ist damit nahezu ausgeschaltet. Gelegentlich bilden pastose Pinselzugformationen regelrecht Farb-Körper mit haptischen Qualitäten aus, die unter Umständen sogar in den Realraum vordringen. Der Künstler liebt besonders die Primärfarben, deren Klarheit und Einfachheit beziehungsweise Eindeutigkeit seinen bildnerischen Absichten sehr entgegen kommen.

Pro Bild wahrt die Farbpalette bei aller Wärme dennoch eine unbestimmte Künstlichkeit, obgleich meist Farben gewählt wurden, die im Farbkreis nahe beieinander stehen. Zwar können sich so durchaus landschaftliche Assoziationen manchmal einstellen, gleichwohl demonstriert das Bild doch immer auch seine Naturferne und präsentiert sich als pures Kunst-Gebilde. Der Maler verwendet, von den Gelbklängen abgesehen, selten reine Primärfarben; d.h. er gibt den eher gebrochenen (jedoch leuchtkräftigen) Farbtönen den Vorzug. So benutzt er zum Beispiel viel lieber das zum Türkis hin tendierende Mangan-Coelinblau, als das dunklere, kältere Ultramarin. – Gewiss: Horst Noll sagt, er habe noch nie einfarbige Bilder gemalt. Das stimmt selbstverständlich, was die Gestaltung der Werke anlangt, sofern die Kompositionsprinzipien gemeint sind. Der Betrachter freilich nimmt zuerst eine latente Monochromie wahr, sieht also einen Grundfarbton, auf den das jeweilige Bild abgestimmt zu sein scheint; erst auf den zweiten Blick erkennt er die simultane Wirkung der zahlreichen, verschiedenfarbigen Malschichten. Hat man sich die Komplexität eines jeden Bildes erst einmal vergegenwärtigt, wird einem klar, was den Maler wirklich antreibt, was er sucht und zu finden hofft: eine polychrome Synthese.

Auf die Licht-Referenz mancher Gemälde wäre noch hinzuweisen. Die bemalten Casani-Sperrholzkästen erinnern ja beinahe an Lichtkästen, insbesondere dann, wenn die vier Kanten des Bild-Objektes nicht bemalt wurden. Zwar ist das Licht bekanntlich ein ganz anderes Medium, mit dem auch künstlerisch gearbeitet werden kann, aber die je sichtbare Farbe übermittelt zumindest das Lichtprinzip – oder, wie Goethe es im Vorwort zu seiner Farbenlehre aussprach: „Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden.“

Horst Nolls Malerei ist der stets neu unternommene Versuch einer endgültigen Definition von Farbe als Objekt wie auch Subjekt des Künstlers. Das Resultat sind Bilder von poetischer Ausdruckskraft, an der sich sowohl ästhetische Genussfreude als auch Intellektualität entzünden können. Angesichts der insbesondere von virtuellen und digitalen Medien vielfach betriebenen „visuellen Umweltverschmutzung“ erhält sich diese Malerei eine humane Dimension. Die Reduktion des Bildmaterials und der Bildmittel allein auf das Medium der Farbe vermag es, den visuellen Sinn des Menschen neu zu schärfen, das müde Auge wieder zu sensibilisieren. Dem unvoreingenommenen Betrachter enthüllen sich so die Wunder, die Geheimnisse und Sensationen der Farbe – ein geradezu therapeutisches Abenteuer.

Gunther Sehring, 2003

     Öl auf Karton
     32 x 22,7 cm
     2001