„Lust auf Metanoia?“ So lautet die zentrale Frage eines starken Essays von Botho Strauss, erst kürzlich im „Spiegel“ abgedruckt. „Die Welt ist nicht mehr, wie sie war“: Wie oft hat man seit dem 11. September 2001 diesen Satz gehört. Wenn dies tatsächlich stimmt, hat sich also etwas sehr geändert, verändert. Ein verändertes „Außen“ bedingt aber zwingend eine Reaktion des Subjekts: Ich/Du/Er und Sie – wir wollen, wir müssen reagieren.
Das griechische Wort metanoia bedeutet übersetzt so viel wie „Umkehr“, „Sinnesänderung“; es bezeichnet bei den Theologen die innere Ein- und Umkehr mit allen Konsequenzen und bei den Philosophen die Gewinnung einer ganz neuen Weltsicht. Auch und gerade der Kunst geht es seit jeher um ein stetes Neu-Gestalten. Wenn ein Künstler, im Sinne von Karl Kraus, derjenige ist, der aus der Lösung ein Rätsel machen kann, so barg die Kunst von vornherein „eine die Gewohnheiten überschreitende – also transzendierende – Funktion in sich, verwoben mit der Frage nach dem Sinn des Tuns. Kunst wird damit – wie immer wir die Begriffe definieren mögen – zu so etwas wie zur Sprache des Verborgenen, der Spiritualität“ (Rainer Volp). Kunst lässt die Unfasslichkeit des Ganzen ahnen. Zumin¬dest verleiht sie unserer Anschauung von Welt erst Gestalt. Malträtiert von den diversen Ablenkungsstrategien der hektischen Konsum- und SpaßgeseIlschaft gewinnt die Frage nach der Qualität von bildender Kunst eine neue Dimension.
Der Künstler (so jedenfalls mein idealistischer Standpunkt) geht auf in der Hingabe an seine Kunst, oft genug um den Preis des Preislosen. Kunst sucht und findet schließlich nicht den Sinn im Zweck, sondern – noch immer – den Zweck im Sinn. Sie ist weder zweckbestimmt noch erschöpft sie sich in ästhetischer Selbstgenügsamkeit. Plattitüden, Dogmatismus und Formalismus sind ihr Tod. Und schaut man sich nun einmal die schon so oft totgesagte Malerei an, erscheint sie gerade in letzter Zeit quicklebendig.
Der Maler Horst Noll ist ein Vertreter der Farbfeldmalerei. – Kein Wunder also, dass die „Farbraum Art Gallery“, die ihren Ausstellungsschwerpunkt dem großen Thema Farbe widmet, ihn für sich entdeckt hat. Als einen einheitlichen Stil lässt sich das Phänomen Farbfeldmalerei kaum auffassen; es gibt unter anderem Beziehungen zum Informel und zur Konkreten Kunst. „Sieht man von Malewitschs und Rodtschenkos ersten monochromen Bildern aus den Jahren 1917 bzw. 1921 ab, spannt sich der Bogen von der amerikanischen Farbfeldmalerei der 50er und 60er Jahre eines Barnett Newman, Mark Rothko oder Ad Reinhardt und der Hard-Edge-Bewegung um Stella, Noland und Kelly über die europäischen Vertreter der Monochromie wie Yves Klein, Piene, Mack, Uecker, Albers, Graubner, Fontana oder Manzoni bis zu den Farbmalern der 70er und 80er Jahre wie Marioni, Umberg, Winzer, Hafif, Mosset und andere. Angesichts dieser – hier nur angedeuteten – Vielfalt der Farbmalerei, die mit Begriffen wie monochrome Malerei, Hard-Edge, Colour Field, Radikale und essentielle oder Malerei/Malerei beschrieben wurde, ist es für einen Künstler zu Beginn des 21. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich, eine eigenständige Position zu entwickeln, die sich nennenswert von den bereits vorhandenen Ausdrucksformen unterscheidet“ (René Hirner).
Gute, starke Bilder tragen gewissermaßen das Signum, das Gesicht ihres Schöpfers. Ich bin überzeugt, dass Horst Nolls „Selbstbildnisse“ von Mal zu Mal und von Jahr zu Jahr charakteri-stischer werden. Die Kunstwissenschaft und -kritik unterscheidet übrigens, gewohnt gründlich, zwischen einer „realistischen“ Richtung und einer „idealistischen“, „transzendentalen“ Strömung der Farbfeldmalerei. Welcher Position nun Horst Noll zuzuordnen wäre, überlassen wir gerne späteren Spekulationen. Überhaupt entsprechen die kunsthistorischen Schubladen natürlich einem Bedürfnis nach wissenschaftlicher Übersichtlichkeit, jedoch stehen sie immer in Gefahr, „an der Identität des je gegebenen Werkes vorbei zu verallgemeinern“ (Max Imdahl). Tatsache ist aber, dass längst brüchig gewordene L‘art pour l‘art-Positionen gerade heutzutage keine neuen Perspektiven mehr aufzuzeigen vermögen.
Warum sollten Bilder denn nicht sowohl ihren Objektcharakter behaupten als auch über sich selbst hinausweisen dürfen? Malerei ist gewiss insofern autonom, wenn sie Beziehungen zwischen Farbformen stiftet beziehungsweise thematisiert; Beziehungen, die eben im Rahmen ihrer spezifischen Möglichkeiten liegen und die die Homogenität des Bildes gewährleisten. Es sind ja Relationen, welche Ordnung und Offenheit der Welt zugleich garantieren. Weil nun auch die Malerei es vermag, zwanglos auf jeweils gültige Ordnungen hinzuweisen, indem sie nämlich eine bildnerische Logik walten lässt, vermittelt sie schon eine Ahnung des Ewigen und berührt das Unsagbare. Und ebendort, wo die Worte versa-
gen, greift die Kraft der Formen und der Farben.
Joseph Marioni, selber Maler, sagt über die Grundbedingung reiner Malerei folgendes: „Bilder, die vergegenwärtigte Bilder im eigentlichen Sinne sind, besitzen bestimmte materielle Eigenschaften, die von wahrnehmungsfähigem Inhalt sind – die ‚gemalte Farbe‘ und ihren ‚Träger‘. Das tragende Gerüst ist ein Objekt, dessen spezifische Bestimmung es ist, bemalt zu werden. Sowohl die Farbe als auch die tragenden Materialien sind von einer physikalischen Logik und einer logischen Beziehung. Wenn die Materialien des Bildes auf eine Weise geordnet sind, welche ihre innere Logik offenbart, und wenn sie zugleich eine Wahrnehmung menschlicher Identität beinhaltet, ist das Malerei-Bild präsent.“ – Horst Nolls Gemälde präsentieren sensible, vibrierende Farbstrukturen. Intuitiv gesetzte, übereinander gelagerte Schichten reiner Farbe vollenden sich zu transparent-pastosen Bildern, die zwar stets ihr autonomes Eigenleben vorführen, die aber darüber hinaus auch die Frage nach der Korrelation von Geist und Materie durchaus zulassen.
Aus der Distanz wird der Betrachter überwältigt von der scheinbar anonymen Radikalität reiner Farbe; erst die Nähe zum Bild enthüllt ihm die Intimität strukturierter Farb-Fakturen und lässt ihn Zusammenhänge beziehungsweise Farbräume entdecken.Vor allem Nolls ältere Acryl- und Ölbilder zeigten eine Einbindung konstruktiver Formen in die ineinander verwobenen, lichten Farbsphären. Solche konstruktiven Negativformen entstanden durch Verwendung von Klebestreifen. Diese Negativstreifen waren gewissermaßen „optische Anker“, die das Nahe mit dem Fernen verklam-
merten und den Bildraum „entschlüsselten“, um so das Gewachsene des Bildes unmittelbar vor Augen zu führen.
Bei den neuen Arbeiten, insbesondere bei den Großformaten, akzentuieren sparsam gesetzte gestisch-malerische Einschübe oder zufällig-spontan wirkende Ausbrüche die Ränder und Ecken, während einige pastose Einsprengsel direkt mit dem scheinbar immateriellen Farbgefüge korrespondieren: Sie unterbrechen, wie kleine Wellen auf hoher, ruhiger See, leise den Grundfarbklang des jeweiligen Bildes und garantieren doch die Kontinuität der Gesamtkomposition. Die graphisch wirkenden Negativformen sind nun also im Wesentlichen ersetzt durch „positiv“ gesetzte, gestisch-malerische, pastose Pinselhiebe. Diese können als heftiges Staccato erscheinen oder eher zart-zögernd in ruhiger Bewegung verharren, immer aber sind sie gleichsam organisch in den Farbleib eingebunden. Ähnlich den früheren Negativ-Chiffren fungieren nämlich auch sie, auf kleinem oder kleinstem Raum, als eine Art „Inhaltsangabe“, d.h. als ein Konzentrat der farblichen Essenz des jeweiligen Bildes.
Horst Nolls freie Malerei gibt sich erstaunlich offen und uneitel, sie kommt ohne Umschweife zur Sache. Weder behauptet sie eine verborgene Geistigkeit noch zeigt sie eine krude Materialschwelgerei – das macht sie sympathisch. Und dennoch ist sie äußerst eloquent, weil vital und lebensbejahend.
Zum Schluss nochmals die Frage: „Lust auf Metanoia?“ Vielleicht zuerst einmal nur eine Hinkehr zur Kunst, zur Malerei? – Der bekannte Kunsthistoriker Walter Koschatzky hat einst vermerkt: „Kunst ist weder Hobby noch Zeitvertreib, sondern Teil der humanen Existenz.“ Man darf
gewiss hinzufügen: Dies galt und gilt für jegliche Zeit. Und in der Tat, Kunst ist zwar nur ein recht bescheidenes, aber doch ein sehr gutes Lebens-Mittel auf unserem Weg. Alles Weitere überlassen wir getrost unserer subjektiven Augen-Lust!
Gunther Sehring, Rede zur Ausstellungseröffnung in der Darmstädter „Farbraum Art Gallery“, 2001
Öl auf Leinwand
190 x 140 cm
1997